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Die Organisierungsdebatte

Mit dem Begriff "Organisierungsdebatte" ist im engeren Sinne eine Diskussion der frühen 90er Jahre gemeint, die durch Vorschläge zu einer formelleren Organisierung von der Göttinger Antifa (M) ausgelöst wird. Ihr Konzept, sowie die "Heinz-Schenk-Debatte", die zur Gründung der Gruppe fels (für eine linke Strömung) führt, sind im Buch dargestellt. Die Positionen einiger KritikerInnen, die ohne organisatorische Auswirkungen bleiben, werden dagegen dem Vergessen Preis gegeben.

Die hier vorgestellten Papiere bereiten die Organisierungsdebatte größtenteils vor. Besonders die Kritik der Lupus-Gruppe erreicht große Verbreitung (auch im Buch), hier wird vor allem ihr Organisierungskonzept vorgestellt.

Die Stärke Papiers aus Hamburg, "Ich sag' wie's ist!", liegt in ihrer Analyse des Hafenstraßen-Konflikts, dagegen wurde das beinhaltete Organisationskonzept nach kommunistischem Vorbild von den Autonomen mit Nicht-Beachtung gestraft.

Zudem werden die beiden ersten Bücher von Geronimo vorgestellt. Sein erstes Werk, "Feuer und Flamme" war als Antwort auf die Vorschläge der anderen Gruppen gedacht und bietet einen umfassenden Theoretisierungsversuch der autonomen Praxis. Die Fortsetzung, "Feuer und Flamme 2", beschränkt sich leider auf die historische Darstellung und fällt daher gegenüber dem ersten Buch leider etwas ab.

Der folgende Text basiert auf Auszügen aus meiner Examensarbeit von 1994.

1. Die autonome Lupus-Gruppe aus Frankfurt

Die in erster Linie mit Theoriearbeit in Erscheinung tretende 'autonome lupus-Gruppe' aus Frankfurt formierte sich aus Personen, die bereits seit '80/'81 aktiv waren und sich danach in Wackersdorf und an der Startbahn-West engagierten. Ihre Zusammensetzung änderte sich seit ihrer Gründung, sie behielt aber den Namen bis in die 90er Jahre bei, da, wie sie selbst sagt, eine "inhaltliche Kontinuität" gewährleistet sei. Ihre Texte aus den Jahren '86 und '87 sind die ersten, die autonome Praxis grundlegend in Frage stellen und eine Diskussion um Konsequenzen fordern. In den 90ern entwickelt sie sich zur einzigen, fast nur über theoretische Texte wahrnehmbaren autonomen Gruppe.

Unter dem Namen lupus-Gruppe werden auch einige Artikel zu den Prozessen nach den Polizistenmorden an der Startbahn veröffentlicht. Die Gruppe versucht zunächst, für die 'Aussagenverweigerungs-Kampage' der Autonomen zu werben, und rechtfertigt später die dennoch gemachten Aussagen zur Entlastung eines Angeklagten. In dieser Zeit wird der ursprüngliche Ansatz nicht öffentlich weiterentwickelt.

Erst ab 1990 nimmt sie wieder zu allgemeineren Fragen autonomer Perspektive Stellung. In der "Doitsch-Stunde" von '91 und dem Buch 'Geschichte, Rassismus und das Boot' bleibt die lupus-Gruppe aber viele Antworten auf die früher gestellten Fragen schuldig.

Eigentlich Schnee von gestern?

Unter diesem Titel veröffentlicht die lupus-Gruppe in der letzten Ausgabe der Zeitschrift "atom" einen um nicht mehr aktuelle Verweise und Beispiele gekürzten Text aus dem Jahre '86. Er enthält sowohl fast alle Kritikelemente, die in der Berliner HausbesetzerInnenbewegung an den NichtverhandlerInnen geübt wurde, aber auch die Militanzkritik, die sich später in 'Ich sag', wie's ist!' findet und von feministischer Seite vorgebracht wird, sowie Fragen autonomer Strategie und Organisierung, die in der 'Organisationsdebatte' wieder auftauchen. Die aus der Kritik entwickelte Perspektive ist, 'militante Kerne' miteinander zu vernetzen und eine mit dem Alternativmilieu vergleichbare, aber 'militante' Gegenkultur aufbauen zu wollen. Aus dem Diskussionsaufruf zu diesem Vorschlag ergaben sich offensichtlich keine organisatorischen Konsequenzen; entsprechende Diskussionen oder Umsetzungsversuche sind nicht dokumentiert. Die formulierte Kritik erfährt aber Zustimmung und wird immer wieder aufgegriffen. An ihr müssen auch die späteren Stellungnahmen der lupus-Gruppe selbst gemessen werden.

Die anhand der Patriarchatsdiskussion und dem Papier aus Hamburg dargestellte interne Kritik an den Autonomen nimmt den größten Teil von 'Eigentlich Schnee von gestern?' ein. Darüber hinaus spricht die lupus-Gruppe Defizite autonomer Politik an, die später immer wieder aufgegriffen und zu Argumenten in der Organisierungsdebatte werden.

Es fehle den Autonomen an konkreten Zielen, daher sei ihre Planung auf die Bestimmung der Mittel, die "Gewaltfrage" reduziert (lupus 1986, S. 26). Die Gewaltfrage hätten sie "selbst gestellt und verloren" (ebenda). Durch den Mangel an politischen Zielen komme es gerade in den autonomen Hochburgen, zu einer Arbeitsteilung mit VertreterInnen von Alternativpolitik. Die Grünen nutzten die Randale der Autonomen, um ihre politischen Vorstellungen durchzusetzen. Daher habe "Stoltenberg den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er sagt: 'die Militanten sind der bewaffnete Arm der Grünen'" (ebenda, S. 27).

Statt die "Systemfrage" zu stellen und "die Stillegung der herrschenden Klasse" zu fordern, müßten durchsetzbare Ziele formuliert werden und "reale Erfolge und Verbesserungen" zum Gradmesser autonomer Politik werden (ebenda, S. 28). Dazu sei es auch notwendig, daß Erfahrungen weitergetragen und Fehler nicht "ritualisiert" würden, also "die Alten" sich nicht zurückziehen, während "die Jungen" deren Fehler wiederholten (ebenda, S. 26). Die lupus-Gruppe schlägt eine Organisation vor, die "militante Kerne" vernetzt und "Alltag und Bewegung" integriert (ebenda, S. 32). Es sollten "verbindliche Strukturen" geschaffen werden, in denen offen über militanten Widerstand diskutiert werden kann (ebenda).

Es wird die Doppelstrategie propagiert, eine "militante Perspektive innerhalb und außerhalb von Lohnarbeitsverhältnissen" (ebenda, S. 31) entwickeln zu müssen, um eine "soziale Verwurzelung" (ebenda, S. 28) der Militanz zu erreichen und "fehlende Strukturen nicht nur immer wieder zu beklagen, sondern selbst zu schaffen" (ebenda, S. 31). Damit ist der Aufbau von Projekten in folgenden Bereichen gemeint: "Ökologie über 'Schattenwirtschaft' bis hin zu eigenen Medien, radikaler Medizin, Werkstätten und Sportvereinen..." (ebenda, S. 32). Dieses Konzept scheint an das 'Alternativmilieu' angelehnt, ohne daß allerdings deutlich gemacht wird, wie der Aspekt der 'Militanz' damit verbunden werden soll.

Der Text der lupus-Gruppe zeugt von einem hohen Reflexionsniveau über die Defizite autonomer Politik, die ein geplantes Vorgehen verhindern. Er nennt auch notwendige Kriterien für künftige Formen der Organisierung. Der Forderung nach Verbindlichkeit und Kontinuität, verbunden mit der Strategie des 'autonomen Milieus' und der 'sozialen Verwurzelung', sind aber kein Konzept oder Beispiele für eine entsprechende Organisationsform beigefügt. Es wird lediglich eine Diskussion über die Vorschläge angeregt. Wahrscheinlich ist das einer der Gründe, warum die Kritik auf organisatorischer Ebene praktisch folgenlos geblieben ist.

Wie bei den AutorInnen aus Hamburg gelingt es der lupus-Gruppe nicht, aus ihrer Kritik an den Autonomen ein tragfähiges Politikkonzept zu entwickeln: Die veröffentlichten Vorschläge waren offensichtlich nicht umsetzbar.

Doitsch-Stunde

In der 1990 erstmals veröffentlichten und in 'Drei zu Eins' abgedruckten 'Doitsch-Stunde' widmet sich die lupus-Gruppe dem angeblich schematischen Gesellschaftsverständnis der Autonomen, das zu überholten Antifaschistischen Strategien führe, und fordern ein neues Verhältnis zu MigrantInnen. Die Kritik am autonomen Antifaschismus bleibt allerdings sehr 'negativ', da es ihr in erster Linie darum geht, für 'antirassistische' Arbeit zu werben.

Die geringe Beachtung der autonomen Proteste gegen die "Wiedervereinigung" habe den Autonomen ihre relative gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit vor Augen geführt (lupus 1991, S. 88). Die Bedeutungslosigkeit rühre daher, daß der Umgang mit Nationalismus und Faschismus, die antifaschistische Praxis, von "Gegen-Ritualen" (ebenda, S. 89) und von einem Gesellschaftsbegriff aus den 70er Jahren geprägt sei, der die Kontinuitäten zum Nationalsozialismus betone. Die BRD nach der Vereinigung als "4. Reich" zu betrachten, mit einer Ideologie aus "Frau an den Herd", "Rassenreinheit", "Volksgemeinschaft" und "soldatischer Askese", nehme die Veränderungen der letzten 20 Jahre nicht zur Kenntnis (ebenda, S. 91).

Sowohl die Gesellschaft als auch die Politik hätten sich gegenüber dem deutschen Faschismus geändert. Frauen seien in alle gesellschaftlichen Bereiche vorgedrungen, die "multikulturelle Gesellschaft" sogar von der Werbewirtschaft aufgegriffen, viele Deutsche eher von "DM-Mentalität" als von Nationalismus geprägt, und das hedonistische Lebensgefühl breiter Mittelschichten habe zu einer "Diversifikation herrschaftsförmiger 'Lebensstile'" geführt (ebenda). Gleichzeitig werde nicht mehr mit "Terror" regiert, sondern politischer Widerstand "für die Dynamik des Systems nutzbar gemacht" und durch Gewerkschaften "hindurch regiert" (ebenda, S. 92). Insgesamt gebe es von staatlicher Seite wenig Gründe dafür, daß "nationale und faschistische Potentiale zur Stabilisierung von Herrschaft" (ebenda, S. 94) aktiviert werden müßten. Es gebe sogar einen "staatlich regulierten Antifaschismus" (ebenda, S. 98), der "historische Schuld und Mitverantwortung" anerkannt habe, während die Neonazis praktisch keine politische Bedeutung hätten (ebenda, S. 100).

Antifaschismus, der die Konfrontation mit den Nazis suche und ein '4. Reich' beschwöre, gebe dem Staat die Möglichkeit, "Rechts- und Linksradikalismus" gleichzusetzen, sich davon zu distanzieren und "sich selbst in der Mitte zu postieren" (ebenda).

Die lupus-Gruppe geht offensichtlich davon aus, daß der Antifaschismus jenseits des organisierten Selbstschutzes keine Perspektive für Autonome bieten kann. Da sie keine eigene antifaschistische Strategie entwickelt, hat die Kritik an den Vereinfachungen, die entstehen, wenn Parallelen zwischen der vereinigten BRD und dem Nationalsozialismus gezogen werden, rein denunziatorischen Charakter. So ist es nicht verwunderlich, daß sich die 'radikal' in zwei Beiträgen gegen die Argumentation der lupus-Gruppe wendet und die Notwendigkeit von militantem Antifaschismus betont.

Die lupus-Gruppe schlägt vor, nicht antifaschistischer sondern antirassistische Arbeit zu leisten und dem "kulturellen Rassismus" zu begegnen. Darunter wird einmal verstanden, daß "kulturelle Werte" (lupus 1991, S. 101) zur "unüberwindlichen Grenzziehung" (ebenda, S. 102) benutzt würden, aber auch, daß "fremde kulturelle Einflüsse (...) in ihrer systematischen Entwurzelung der Veredlung deutscher Lebenskultur" dienten (ebenda, S. 101 f). Autonome und MigrantInnen sollten sich nicht mehr als "Opfer" staatlicher Verfolgung begegnen, die "um Befreiung" kämpfen, sondern auch als Handelnde, die "Gewaltverhältnisse mitaufrechterhalten" (ebenda, S. 102). Im Opfer-Täter-Schema ist der Einfluß der Theorie von der 'triple oppression' unverkennbar. Allerdings richtet sich die Aufforderung, 'sich seiner inneren Widersprüchlichkeit bewußt zu werden', hier auch an MigrantInnen.

Geschichte, Rassismus und das Boot

1992 erscheint ein Buch mit Aufsätzen der lupus-Gruppe unter dem Titel "Geschichte, Rassismus und das Boot". Die enthaltenen Beiträge beschäftigen sich mit Reaktionen auf die 'Doitsch-Stunde', Argumentationen zur Unterstützung des zweiten Golfkrieges, dem Verhältnis der deutschen Linken zu Israel und dem Konzept einer 'multikulturellen Gesellschaft'. Ein Redebeitrag von Frankfurter MigrantInnen, der vor linkem Publikum gehalten wurde, ist ebenfalls abgedruckt und dient als Einstieg zur Beschäftigung mit 'Rassismus'.

Das letzte Kapitel mit dem Titel: "Von Grundlagen und anderen verborgenen Dingen" (lupus 1992, S. 139 ff) fordert noch expliziter die Zusammenarbeit mit MigrantInnen und Flüchtlingen und schließt damit direkt an die 'Doitsch-Stunde' an.

Bei der lupus-Gruppe finden sich die zu bekämpfenden 'Herrschaftsverhältnisse' in erster Linie in den Menschen. Sie hätten Normen verinnerlicht, die sie dazu veranlaßten, Unterdrückungsstrukturen zu tragen. Die politischen Aktivitäten sollten sich daher nicht gegen etwas 'Äußeres' wie 'das System' richten, sondern zunächst die 'innere Normierung' überwinden.

Das könne geschehen, indem die von Unterdrückung Betroffenen in Konfrontation mit den UnterdrückerInnen gehen. Die 'Befreiung von der Herrschaft' setzt zunächst bei 'der Linken' selbst an. Ihre Aufgabe ist es, eine Art 'Gegengesellschaft' aufzubauen, einen 'herrschaftsfreien Raum' außerhalb gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse zu schaffen.

Gemäß der Theorie von den 'drei Säulen der Unterdrückung' sind Kapitalismus, Rassismus und Patriarchat die vorhandenen Herrschaftsformen. Der Kapitalismus bleibt aber weitgehend aus der Analyse ausgespart, wahrscheinlich weil sich seine Unterdrückungsqualität schlecht aus einer inneren Normierung der Menschen herleiten läßt. Die lupus-Gruppe schreibt: "Wirtschaftsmacht basiert auf der Transformation dumpfester Macht in strukturelle und systematische" (ebenda, S. 83). Wie mit dieser strukturellen Macht, die offensichtlich nicht auf Normierungen aufbaut, umgegangen werden soll, bleibt unklar.

Dagegen ist die Funktionsweise von Patriarchat und Rassismus breit entwickelt. In Berufung auf Birgit Rommelspacher behauptet die lupus-Gruppe als Quelle für Rassismus und Patriarchat das Vorhandensein von Konfliktlösungsmustern, mit denen auf Andersartigkeit mit "expansiver Bemächtigungstendenz" reagiert würde (ebenda, S. 47). In Konfrontation mit dem anderen Geschlecht würden Jungen auf "Dominanzverhalten" ("aggressive Selbstbehauptung") und Mädchen auf Unterwerfung ("Friedlichkeit, (...) Selbstentwertung") sozialisiert (ebenda). Die von beiden verinnerlichte Norm sei die darin zum Ausdruck kommende "Hierarchisierung", die es beiden Geschlechtern erlaube, je nach Bedarf auf Dominanz oder Unterwerfung zurückzugreifen (ebenda).

Ihre rassistische Wirkung entfalte diese 'Bemächtigungstendenz', die von der lupus-Gruppe mit "eher emotional strukturiertem Abgrenzungstotalitarismus" (ebenda, S. 48) gleichgesetzt wird, wenn sie auf "einen Kreis von Menschen [mit] angehefteten Eigenarten" (ebenda, S. 51) angewendet werde. Dominanzverhalten sei also nicht auf eine "miese Absicht des einzelnen" (ebenda, S. 49) zurückzuführen, sondern ein Muster der Konfliktbewältigung, das nicht einfach verändert werden kann. Diese zur "zweiten Natur" gewordene "Normierung des Menschen" (ebenda, S. 157) könne nur durch "Konfrontation" derer, die Dominanzverhalten an den Tag legen, mit den "Unterdrückten" durchbrochen werden, wobei nicht nur das Dominanzverhalten, sondern auch die "verinnerlichte Norm der Hierarchisierung" bekämpft werden solle (ebenda, S. 156).

Für die lupus-Gruppe steht damit nicht ein Herrschaftsbegriff im Vordergrund, der sich auf Institutionen und Apparate bezieht, sondern auf die "Normmacht" (ebenda, S. 161) in den Menschen. Ihre revolutionäre Perspektive bezieht sich nicht auf eine "Staatsanalyse" (ebenda) oder eine "materialistische Begründung für die Möglichkeit der Revolution" (ebenda, S. 163).

Was als Folge "revolutionären Wollens" gefordert wird, ist, daß "soziale Zusammenhänge" geschaffen werden, "in denen die Einzelnen jenseits der Konsumsphäre sich als 'Wollende' (er)kennen lernen" (ebenda, S. 165). Ziel sei es, als Minderheit "jegliche Reproduktion von Herrschaft" bekämpfen und "die Einbeziehung in den Machtapparat" (ebenda, S. 149) verweigern zu wollen. Eine "systemüberwindende" Perspektive jenseits dieses "herrschaftsfreien Raumes" wird nicht entwickelt, obwohl die Definition der Revolution als "Zerschlagung (...) des Staatsapparates" (ebenda, S. 98) eingefordert wird.

Angewandt auf ihr Anliegen, antirassistisch zu wirken, werden nicht gesellschaftliche Veränderungen zum Kriterium für die Umsetzung eines antirassistischen Anspruchs, sondern der Aufbau einer 'Gegengesellschaft', die MigrantInnen integrieren kann:

"Darum ging's uns und darum muß es uns heute erst recht gehen: Bedingungen unter uns und um uns herum zu schaffen, in denen MigrantInnen zumindest die Entscheidung, die Wahl haben, mit uns zu leben oder gar zu kämpfen. Das wäre eine gelebte gesellschaftliche Utopie, die unseren anti-rassistischen Anspruch glaubwürdiger machen würde, als jede noch so pralle Erklärung und Analyse" (ebenda, S. 21).

Auch ihr Militanzbegriff, der bei Autonomen nicht fehlen darf, richtet sich darauf, Selbstorganisation 'gegen den Staat' durchzusetzen. Die von Autonomen organisierte Flucht von AsylbewerberInnen aus einer von Anschlägen bedrohten Unterkunft in Greifswald in das 'Kirchenasyl' in Neumünster wird als beispielhaft für eine "militante Praxis" angeführt, die dazu beitrage, "daß nicht mehr der Staat, sondern die Menschen selbst ihr Leben in die eigenen Hände nehmen" (ebenda, S. 117).

In Relation zur politischen Praxis sind die Vorstellungen der lupus-Gruppe recht folgenlos geblieben. Außer in der von ihnen angeführten Fluchtaktion ist es zu keiner öffentlich wahrnehmbaren Zusammenarbeit von Flüchtlingen und Autonomen gekommen. Und auch in diesem Fall ist nicht zu vergessen, daß der Zusammenhang, der den Flüchtlingen ein Leben außerhalb der staatlichen Unterkunft bot, von kirchlicher Seite getragen wurde.

Auch was die Zustände untereinander angeht, beschreibt die lupus-Gruppe selbst, wie weit die autonome Szene im Rhein/Main-Gebiet von der Verwirklichung der angestrebten herrschaftsfreien Lebensperspektiven entfernt ist. Spätestens nach den Schüssen an der Startbahn-West sei deutlich geworden, daß die "MitkämpferInnen" einander kaum kannten und ihren "Alltag primär als Vorbereitungsphase für den Kampf(Sonn)-tag" begriffen (ebenda, S. 143). Kontakte außerhalb der 'Sonntagsspaziergänge' kamen offensichtlich kaum zustande. So seien die Beziehungen von "Desinteresse" und "Leistungsdenken" geprägt gewesen (ebenda, S. 144).

In diesem Kontext gewinnt der strategisch gemeinte Ansatz der herrschaftsfreien Räume utopischen Charakter. Er beschreibt nicht das durch erfolgreiche Praxis bestätigte Vorgehen autonomer Gruppen, sondern entwickelt die Vorschläge aus dem erlebten Manko interner Beziehungen. Zudem verzichtet sie vollständig auf Vorschläge zur organisatorischen Umsetzung. Damit werden die politischen Forderungen nach Bedingungen, unter denen ein Zusammenleben mit MigrantInnen möglich ist, zu Ansprüchen, die von Individuen einzulösen sind. Den Schuldgefühlen, die sich aus der strukturellen TäterInnenschaft der triple oppression-Theorie ergeben, fügt die lupus-Gruppe eine tendenzielle materielle Überforderung hinzu, weil es Aufgabe der Individuen ist, Bedingungen zu schaffen, die ökonomische und soziale Ungleichheit überwinden.

Im Kontext ihrer Kritik an der autonomen Szene von '86 und '87 muß die lupus-Gruppe als gescheitert angesehen werden. Forderungen nach sozialer Verankerung der Kämpfe und Widerstand in den Lohnarbeitsverhältnissen, Fragen nach verbindlichen Strukturen und Kontinuität tauchen nach '87 nicht mehr auf. Da sie, wie die Neuveröffentlichung in der 'atom' zeigt, aber weiterhin als aktuell angesehen werden, sind sie vor dem Hintergrund der neueren Publikationen nicht mehr organisatorische Probleme, sondern individuell zu erbringende Leistungen.

Die lupus-Gruppe hat keine ihren ursprünglichen Zielen entsprechende Praxis aufbauen können und ist zu einer bloßen 'Theoriegruppe' geworden, die zu aktuellen Themen Stellung nimmt. Dagegen hat sich der von ihr geschmähte Antifaschismus in den 90ern zu dem zentralen Thema der außerparlamentarischen Linken entwickelt. In der 'Organisierungsdebatte' ist es insbesondere antifaschistisch orientierten Gruppen gelungen, Teile der frühen Kritik an den Autonomen in eine neue Praxis zu überführen und diese theoretisch zu begründen.

2. Kritik aus Hamburg: "Ich sag', wie's ist!"

In den 80er Jahren wurde die Hamburger Hafenstraße zum bundesweiten Symbol autonomer Politik. Dabei war Hamburg zunächst kein geeigneter Ort für erfolgreiche Hausbesetzungen. Dem Beispiel Westberlins folgend wurden '80/'81 einige Häuser besetzt, die allerdings, gemäß einer Senatsvorgabe, innerhalb von 24 Stunden wieder geräumt wurden. Daher wurden '82 die später bekannt gewordenen Häuser an der Hafenstraße zunächst "still" (Geronimo, S. 127) besetzt und die Besetzung erst kurz vor der BürgerInnenschaftswahl öffentlich gemacht. Da der Senat vor der Wahl eine Konfrontation vermeiden wollte, wurden Mietverträge bis '86 abgeschlossen (vgl. ebenda, S. 127f).

In dieser Zeit entwickelten sich die Häuser zu einem 'Stadtteilzentrum', das Ausgangspunkt autonomer Aktivitäten besonders in der norddeutschen Anti-AKW-Bewegung wurde. Nach vorheriger Diffamierung der BewohnerInnen durch den Senat und bürgerliche Medien ('RAF-SympathisantInnen' etc.) wurden die Häuser nach Ablauf der Mietverträge 1986 geräumt. Kurze Zeit später wurden sie wieder besetzt und gegen Räumung gesichert. Den breiten Sympathiekundgebungen und den "Barrikadennächten" (ebenda, S. 129) 1987 folgte der erneute Abschluß von Mietverträgen, allerdings zu sehr schlechten Konditionen. Die Hafenstraße wurde zum Symbol für autonome Politik und erfolgreichen militanten Widerstand.

Nach dem Ende der Auseinandersetzungen um die Hafenstraße fehlt den Autonomen in Hamburg zunächst der Bezugspunkt. Vor dem Hintergrund der relativen 'Bewegungsflaute' erscheint das Papier "Ich sag’ wie's ist!", das autonome Politikformen grundsätzlich in Frage stellt und einen Organisierungsvorschlag unterbreitet.

Die autonome Szene habe große theoretische und organisatorische Defizite, die es ihr unmöglich machten, eine gemeinsame revolutionäre Strategie zu entwickeln und danach zu handeln. Eine Organisation nach "leninistischer Organisationstheorie" mit "Zellenprinzip", Kadern und "Avantgardeanspruch" (ebenda, S. 38) solle aufgebaut werden, und die proletarischen Massen für die Revolution begeistern.

Dieses, als Diskussionsvorschlag gedachte Organisationsmodell, löst kaum Reaktionen aus, zumal die SchreiberInnen auch nicht mit dem Aufbau einer entsprechenden Organisation begonnen hatten, also keine praktische Relativierung ihrer Überlegungen vorweisen konnten. In der INTERIM wurden weder Reaktionen abgedruckt, noch die, für den Fall großer Resonanz auf den Text angekündigte, Fortsetzung veröffentlicht.

Feste Organisationen und strategisches Vorgehen auf Grundlage des "Marxismus-Leninismus" (ebenda, S. 1) waren Politikelemente, die die Autonomen seit ihrer Entstehung explizit abgelehnt hatten. Die Ignoranz gegenüber dem Vorschlag ist daher weniger überraschend als die Tatsache, daß er aus der "autonomen und antiimperialistischen Szene" kommt (ebenda).

Wenngleich das Organisationsmodell praktisch unbeachtet bleibt, findet sich im Text viel Kritik an der autonomen Szene, die als berechtigt angesehen wird und später wieder auftaucht. Es handelt sich dabei um die Vorwürfe, daß es einem Teil der Autonomen nicht um Veränderungen, sondern um "Selbstdarstellung" (ebenda, S. 2) gehe, militaristische Tendenzen vorhanden seien und Handlungsfähigkeit nicht gegeben sei.

Im Text heißt es, dass es einem großen Teil der autonomen Szene nicht um die Revolution gehe, sondern um die Durchsetzung "ihrer Lebensvorstellungen und ihrer Lebensweise", was mit ihrer Herkunft aus der "Mittelschicht" zusammenhänge, die kaum materielle Sorgen vermittle (ebenda, S. 4). Der sich daraus ergebende Kampf um "Freiräume" (ebenda, S. 5), der mit der Formel, für ein "selbstbestimmtes Leben" zu kämpfen auf den Punkt gebracht wird, sei aber nicht automatisch revolutionär, "unabhängig davon, wie militant er geführt wird". Selbstbestimmung sei nur in der "sozialistischen Gesellschaft" (ebenda, S. 6) möglich.

Am Beispiel des Hafenstraßen-Mythos machen die SchreiberInnen deutlich, wie die Mobilisierungserfolge erzielt wurden und warum dabei die revolutionäre Perspektive fehle. Die Dynamik der Auseinandersetzungen sei zustandegekommen, weil hier symbolisch "Rebellen gegen Ordnungshüter" (ebenda, S. 9) gekämpft hätten. Für die eine Seite habe die Hafenstraße für "die Hoffnung auf ein anderes Leben, für Rebellion, dafür, sich von den Bullen nix gefallen zu lassen" (ebenda, S. 8) gestanden, währen die andere Seite in ihr "alles Böse, (...) alles, was die Ordnung bedroht" gesehen hätte (ebenda, S. 9).

Die geringe Beteiligung an einer "internationalistischen" Demonstration kurze Zeit später zeige, daß die vorher errungenen Erfolge nicht einfach in "dauerhafte politische Stärke" umgesetzt werden konnten. Bei dieser Gelegenheit zeige sich ein weiterer Nachteil fehlender Organisierung: Die "Szene" lerne nicht aus ihren Erfahrungen und tappe immer wieder in die "militaristische Falle" (ebenda, S. 10). Da der Polizeiapparat militärisch überlegen ist, sei es nur in seltenen Fällen und unter bestimmten Bedingungen möglich, Erfolge in direkter Konfrontation zu erzielen.

Ein vermummter Demonstrationszug sei daher nur bei Großveranstaltungen angebracht. Die "Sturmhaube" sei für viele "ein Stück Identität" geworden (ebenda, S. 23). Wenn Vermummung zum Teil des Demokonzepts gemacht werde, nehme sie die Form der Selbstdarstellung an. Dagegen sei ein taktischer Umgang mit Vermummung erforderlich, der auch das Konzept der "kleinen, beweglichen Demozüge" (ebenda, S. 22) oder das Erscheinen in unauffälliger Kleidung beinhaltet.

Der diffuse Begriff von "Befreiung" und "Selbstbestimmung" der autonomen und Antiimperialistischen Szene habe auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie "Internationalismus" (ebenda, S. 24) verstanden werde. Statt Bewegungen nach ihrem "Stellenwert im internationalen Klassenkampf" zu beurteilen, würden sie in das "Lager der Befreiung" (ebenda, S. 25) eingeordnet und "symbolische und propagandistische Solidarität" mit ihnen geübt. Nur eine revolutionäre Organisation könne eine "internationalistische Strategie" entwickeln und tatsächlich in den "internationalen Klassenkampf" (ebenda, S. 29) eingreifen.

Dem Anspruch, eine "revolutionäre Bewegung" zu sein, stehe auch die Tatsache entgegen, daß die politische Arbeit der autonomen Szene so angelegt sei, daß nur Personen mit "autonomem Lebensstil" teilnehmen könnten, was die "werktätige Bevölkerung" von vielen Treffen ausschließe (ebenda, S. 37). Es bedürfe gezielter Öffentlichkeitsarbeit, um "möglichst viele Schichten des Proletariates" zu erreichen (ebenda).

Die Szene sei auch weit davon entfernt, die angestrebten "herrschaftsfreien Zustände" vorzuleben. Ihre Plenen seien geprägt von "Konkurrenzverhalten", "Intoleranz", "persönlicher Anmache" und "Disziplin- und Rücksichtslosigkeit" (ebenda, S. 41). Ihre informellen Strukturen könnten "Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit" nicht herstellen. Selbst wenn an Beschlüssen gearbeitet würde, gebe es Leute, die das Ergebnis der Diskussion nicht abwarteten, sondern durch ihr Handeln praktisch vorwegnehmen (ebenda, S. 42).

Sowohl die Militanzkritik und die Klage über fehlende revolutionäre Theorie als auch die daraus gezogene Konsequenz, daß eine bessere Organisierung und strategischeres Vorgehen notwendig sind, zeugen von hohem Reflexionsniveau über die Defizite autonomer Politik. Die fehlenden Reaktionen auf den Text deuten aber darauf hin, daß Autonome eben nicht bereit sind, sich strategischer Planung unterzuordnen und stattdessen ihre Gewaltanwendung weiter als Spontaneität verstehen wollen.

Dieser Text aus Hamburg und die frühen Texte der lupus-Gruppe zeugen davon, daß es zu dieser Zeit unter den Autonomen Unmut über ihre Organisationsstruktur und ihr strategisches Vorgehen gab. Die interne Kritik war aber nicht in der Lage, ein für Autonome attraktives Alternativkonzept anzubieten und umzusetzen. Möglicherweise hätten die AutorInnen von "Ich sag', wie's ist!" mehr Reaktionen hervorgerufen, wenn sie mit einer dem Modell entsprechenden Organisation öffentlich aufgetreten wären. Mit diesem Vorgehen, eine neue Praxis einzuführen und sie zu begründen, ohne sich von den Autonomen zu distanzieren, hat wenig später die Göttinger "Autonome Antifa (M)" Erfolg.

3. Geronimo: Feuer und Flamme

1990 veröffentlicht ein Berliner Autor unter dem Pseudonym 'Geronimo' den ersten umfassenden Systematisierungsversuch autonomer Geschichte und Theoriebildung. Ursprünglich lediglich als Kritikpapier an 'Ich sag', wie's ist!' und dem Papier der lupus-Guppe von '87, 'Autonome Bewegung: Langlauf oder Absturz?' gedacht (Geronimo, S. 10), beinhaltet das Buch einen sehr langen historischen Teil und Annäherungsversuche an die Fragen der Organisierung, Aktionsformen und Strategien der Autonomen.

Der Autor beschränkt sich ganz auf den politischen Teil der autonomen Bewegung, er stellt sie nicht als 'Subkultur' mit eigenen Lebensformen und äußeren Merkmalen dar. Daher kann er die Geschichte der Autonomen auch unabhängig von der Entstehung des Punk beschreiben und mühelos eine Kontinuität seit der Zeit der 68er-Bewegung herstellen. Die "Antiautoritären" im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) (ebenda, S. 34), die "Spontis" (ebenda, S. 35) und "Betriebsprojektgruppen" (ebenda, S. 36) der 70er Jahre und auch die italienische "Autonomia" (ebenda, S. 25) werden für die Geschichte der Autonomen vereinnahmt. Durch die so konstruierte Kontinuität hat Geronimo einige Schwierigkeiten, die Position der 'NichtverhandlerInnen' im Berliner Häuserkampf 1980/81 zu integrieren. Vor dem Hintergrund entwickelter sozialistischer Konzepte in den vorherigen Bewegungen wertet er die Definitionen von 'Autonomie' der NichtverhandlerInnen als "individualistisch-subjektivistische Wendung" (ebenda S. 96) innerhalb der Autonomen, die darauf zurückzuführen sei, daß es eine Zeit "kaum wahrnehmbarer Klassenkonflikte" gewesen sei (ebenda, S. 97).

Die Darstellung der autonomen Aktivitäten der 80er Jahre konzentriert sich auch bei Geronimo auf die medialen Großereignisse 'Häuserkampf', Anti-AKW-Bewegung, Anti-IWF-Kampagne und Hafenstraße. Weniger sichtbare Kampagnen wie der 'Volkszählungsboykott' 1983 und '87 oder die 'Kill a Multi-Kampagne' gegen 'Shell' (Ende der 80er) finden keine Erwähnung.

Die Ausführungen bemühen sich meist, die autonomen Politikansätze zu rechtfertigen und als erfolgreich darzustellen. Im Fall des Berliner Häuserkampfs führt das zu dem Widerspruch, daß Geronimo die eben noch auf der Theorieebene als 'subjektivistisch' verurteilten NichtverhandlerInnen in ihrer Praxis rechtfertigen muß, weil sie die soziale Basis der Autonomen darstellen. So kommt er zu einer moralischen Verurteilung der VerhandlerInnenfraktion, die sich mit dem Abschluß von Mietverträgen aus der "Konfrontation gegen System und Staat" entzogen hätte (ebenda, S. 98) und damit offensichtlich Schuld am Ende der HausbesetzerInnenbewegung hat.

In Fragen der Beurteilung konkreter Aktionen kritisiert er durchaus den falschen Einsatz "praktischer Militanz" (beispielsweise beim "Krefeld-Debakel", ebenda, S. 104), zieht daraus aber, auch im späteren 'Theorieteil' des Buches, keine organisatorischen Konsequenzen.

Als Kriterien für die Bestimmung linksradikaler Politik nennt Geronimo am Anfang des Buches "Ablehnung von Kaderorganisationen, Politik in der ersten Person, Prinzip der direkten Aktion, Basisdemokratie, Entwicklung von Gegenöffentlichkeiten'" (ebenda, S. 12). In seinem "vorläufigen Resümee" (ebenda, S. 151) grenzt er sich noch von Organisationen ab, die "lediglich ein instrumentelles Verhältnis" zur "Militanz" hätten, und begründet die Verweigerung gegenüber "konventionellen Politikformen" mit dem Anspruch der eigenen "Selbstveränderung" (ebenda, S. 153). Seine Bestimmungsmerkmale autonomer Politik sind also der Anspruch auf Selbstveränderung, direkte Aktionen in Verbindung mit Militanz und 'Politik der ersten Person'.

Geronimo argumentiert, den Operaismus aufgreifend, daß die Revolte von 1980-82 das "Moment der Negation und der Verweigerung gegenüber dem kapitalistischen System auf den Reproduktionsbereich verlängert [und] in die eigene Wirklichkeit übertragen" habe (151 f). Der Autor schafft damit die Möglichkeit, eine Widerstandsform seiner 'eigenen Wirklichkeit' entsprechend anzuwenden. Er deutet damit an, daß er nicht die Auswirkungen, sondern die Intention des/der Handelnden als ausschlaggebend für die Bestimmung der Handlung als 'revolutionärem Akt' ansieht.

Die zweite Hälfte von 'Feuer und Flamme' problematisiert die einzelnen Elemente autonomer Politik und versucht daraus Perspektiven zu entwickeln. Sie dokumentiert allerdings eher die Schwierigkeiten des Autors, sich überhaupt auf Positionen einzulassen, als daß er Strategien entwickelt. So finden sich im Abschnitt zur Organisierung Warnungen davor, daß Organisationen zum Selbstzweck werden könnten (ebenda, S. 167) oder daß die mit ihnen verknüpften Hoffnungen illusionär seien (ebenda, S. 169), aber keine konkreten Beispiele oder Vorschläge zur Organisierung.

Es werden lediglich die Ansprüche genannt, daß eine Organisierung einen Zusammenhang zwischen "subjektiver Emanzipation" und Gesellschaftsveränderung "im Alltag" herstellen solle (ebenda, S. 164) und dabei "experimentellen Versuchscharakter" behalten solle (ebenda, S. 160). Diese indirekte Absage an Strukturen, die Strategien entwickeln und Menschen Aufgaben zuweisen, hängt damit zusammen, daß Geronimo sämtliche politische Handlungskompetenz an die Individuen gibt. Das "Prinzip der Autonomie" bestehe in der "Aufforderung an jedes Subjekt, für seine Befreiung auf Grundlage seiner Erfahrung hier und jetzt mit den eigenen Mitteln im kollektiven Zusammenhang zu kämpfen" (ebenda, S. 162). Der Autonomiebegriff findet sich auch in seinem Internationalismusverständnis. "Die Grundlage der internationalistischen Solidarität muß der Kampf um die eigene Befreiung hier sein" (ebenda, S. 215).

Der offensichtlich als positives Beispiel für eine gelungene Organisierung gedachte letzte Teil des Kapitels zu den "Anti-AKW-Gruppen" in der IWF-Kampagne fügt sich nicht reibungslos in die vorher gezeigte 'subjektivistische Organisationsfeindschaft' ein (ebenda, S. 186 ff). Geronimo wertet den Versuch, in Siemensstadt einen Aktionstag durchzuführen, als "im Prinzip erfolgreich" (ebenda, S. 190), was in mehrerlei Hinsicht unverständlich ist. Er bricht doppelt mit dem vorher proklamierten 'Autonomie-Prinzip', die eigene Emanzipation mit eigenen Mitteln zum Ausgangspunkt der Aktivitäten zu machen: Zum einen dadurch, daß die Autonomen nicht im eigenen Stadtteil aktiv werden, zum zweiten dadurch, daß gegenüber der Siemens-Belegschaft eine 'Avantgarderolle' eingenommen wird. Worin nun der Erfolg der Aktion bestand, nachdem der Aktionstag nicht stattfinden konnte und die Agitationsversuche nicht angenommen wurden, bleibt sein Geheimnis.

Ähnlich ergebnislos sind seine Beschäftigung mit "Klassenanalyse" (ebenda, S. 197), dem 'Internationalismus' und der Bestimmung 'revolutionärer Politik'. Das liegt in erster Linie daran, daß sein Politikbegriff, 'Politik der ersten Person' betreiben zu wollen, wie er selbst sagt, "ein Stück weit quer zu einer Verallgemeinerung steht" (ebenda, S. 193). Jede Form von politischer Strategiebestimmung setzt sich über individuelle Bedürfnisse hinweg und widerspricht damit der 'Politik der ersten Person'. Daher können "revolutionäre Prozesse" (ebenda, S. 200) nur als in ihrer Form und Dynamik nicht vorherbestimmbare Ereignisse, die sich der vorherigen Planung entziehen, definiert werden. Geronimo formuliert es folgendermaßen:

"Ein revolutionärer Prozeß, der zuvor in Klassenanalysen gedacht werden könnte, hätte bereits aufgehört, revolutionär zu sein." (ebenda, S. 201).

Mit der Absage an übergreifende Theorien steht der Weg frei, die Aktivitäten der Autonomen unabhängig von ihrer politischen Wirkung als ‘revolutionär’ zu bezeichnen.

An der Diskussion des Militanz-Begriffes wird deutlicher, was Grundlage der Ablehnung Geronimos gegenüber Theorien und Organisationsformen ist. Die bestehende Gesellschaft ist für ihn geprägt von unmittelbarer "tagtäglich erlebter Gewalt" und erst zu begreifender "struktureller Gewalt" (ebenda, S. 208). Elemente des Gewaltverhältnisses sind das "Zwangssystem der Tauschwerte", "entleerte Arbeitsprozesse" oder "gesichtslose Vorstädte" (ebenda, S. 236). Ein Versuch, sich von den 'Zwangsverhältnissen' befreien zu wollen müsse auch 'Gewalt' als Mittel einsetzen, da "Gewaltfreiheit (...) unwillkürlich auch den herrschenden Verhältnissen" diene (ebenda, S. 209).

Die Anwendung von Gewalt diene neben politischen Zwecken auch immer der "Selbstbefreiung von verinnerlichten Herrschafts- und Gewaltverhältnissen" oder sei Ausdruck eines autonomen "Lebensgefühls" (ebenda, S. 210). In jedem Fall sei darauf zu achten, bei militantem Handeln "immer auch das Moment von tatsächlich in diesen Verhältnissen erlittenen Demütigungen, Schmerzen und Opfern aufscheinen zu lassen" (ebenda, S. 211).

Geronimo geht von einem umfassenden, gewalttätigen ‘Herrschaftssystem’ aus, das alle Menschen ausbeutet und unterdrückt. Während die meisten Menschen durch Konsum in der Freizeit oder Drogenkonsum in diese Gesellschaft eingebunden würden (vgl. ebenda, S. 236), hätten sich "Scene-Stadtteile" mit "bewußt gelebter demonstrativer Verweigerung" gebildet (ebenda, S. 221). Neben der Aufgabe, Verweigerung zu demonstrieren, sollen sie offensichtlich Modellcharakter haben. Geronimo sieht in den von Autonomen ins Leben gerufenen Diskussionsforen (Kiezpalaver, Versammlungen, etc.) für viele Menschen die Chance, "offen und authentisch miteinander zu kommunizieren" (ebenda, S. 237).

Er konstruiert eine Gesellschaft, die aus ‘Gewalt’ besteht und nur ‘Opfer des Systems’ kennt. Ihre Auflehnung oder Verweigerung wird zum 'Akt der Befreiung’; zum emanzipatorischen Akt, der revolutionäre Qualität gewinnt, wenn er versucht, ‘Gegengewalt’ auszuüben. Der Gewaltakt hat die Funktion der Katharsis, er dient der Befreiung von ‘verinnerlichten Gewaltverhältnissen’. In der Gesellschaft der Opfer geht jede Form der Gewalt vom System aus.

Für den Kampf gegen das 'Zwangssystem' gibt es keine einheitliche Strategie; die Form der Befreiung ist an die Wahrnehmung von Unterdrückungsstrukturen gebunden. Auch Klassenlagen sind völlig unerheblich dafür, sich zu wehren. Jede Form der Organisierung würde versuchen die 'unmittelbare Wut auf das System' zu kanalisieren und damit die 'subjektive Befreiung' beeinträchtigen.

Geronimos 'Feuer und Flamme' ist der bislang einzige Versuch von autonomer Seite, das Gemeinsame an ihnen entdecken zu wollen. Dieser Anspruch zwingt den Autor, eine universelle Begründung für nicht strategisch bestimmte Gewaltanwendung liefern zu müssen. Er kann dabei weitgehend auf die Rechtfertigungsformeln und Begriffe aus der 'Autonomie-Diskussion' in der HausbesetzerInnenzeit zurückgreifen, liefert aber zusätzlich autonome Positionen zu den Themen 'Internationalismus', 'revolutionäre Politik' und 'Klassenanalyse', die Abgrenzungen zu anderen Linken erlauben.

Mit seinem Herrschaftsbegriff, bei dem das System Gewalt ausübt und die Menschen sich fügen oder wehren, fällt Geronimo allerdings hinter die Patriarchatsdiskussion zurück. Die feministische Kritik setzt die Ansicht bei den Autonomen weitgehend durch, daß das Patriarchat als Herrschaftsform nicht durch verselbständigte Strukturen, Hierarchien oder Gesellschaftsformen entsteht, sondern entscheidend durch männliches Verhalten produziert und reproduziert wird. Es handelt sich also um eine 'Unterdrückungsform', die nicht jeder Art von Verweigerung und Rebellion einen revolutionären Charakter zubilligt, sondern zunächst ebenso pauschal Männern ihre revolutionäre Gesinnung absprechen kann, weil sie strukturell das System reproduzierten. Geronimo erkennt zwar an, daß Männer "strukturell auf der Seite der Täter" stünden (ebenda, S. 202), sieht sich aber nicht in der Lage, daraus Konsequenzen zu ziehen. Sein Modell kennt nur Opfer, deren Handlungen letztlich das System zu verantworten hat. Nach der Patriarchatsdiskussion sind Autonome aber auch Täter, die ihr Handeln zu verantworten haben.

Die antipatriarchale Kritik fordert entsprechend ein neues Verhältnis zu Gewalt. Sie sei unter bestimmten Bedingungen angebracht und notwendig, diene aber nicht dazu, sich daran 'aufzugeilen'. Gewaltausübung als Mittel, sein Lebensgefühl auszudrücken, wie es bei Geronimo auftaucht, wird hier eine klare Absage erteilt. Es geht nicht mehr alle Gewalt vom System aus; die Autonomen sind verantwortliche Personen, die ihr Handeln rechtfertigen müssen. So führt die Patriarchatskritik dazu, daß militantes Verhalten stärkerem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt ist und nach seinen Zielen und Wirkungen befragt werden kann.

Feuer und Flamme 2

Zwei Jahre nach Geronimos Buch veröffentlicht die Edition ID-Archiv 1992 den Ergänzungsband "Feuer und Flamme 2" (Geronimo 2). Doch statt die Gelegenheit wahrzunehmen, hier die Defizite und Widersprüche des ersten Bandes auszugleichen und die eingegangene Kritik zu bewerten, schreibt der Autor die autonome Geschichte lediglich chronologisch fort und kommentiert die neueren Entwicklungen. Auch die erwartete Auseinandersetzung mit seinem Gewaltbegriff bleibt aus. Hatte er im ersten Band immerhin zur Kenntnis genommen, daß die autonome Frauenbewegung "alles durcheinander" bringt (Geronimo, S. 153), und die Parole ausgegeben "Männerbewegt das Patriarchat durchbrechen" (ebenda, S. 201), findet sich im zweiten Band nicht ein Wort zum Geschlechterverhältnis und seinen Konsequenzen für militantes Verhalten.

Ansonsten nimmt Geronimo zu einigen Reaktionen Stellung und versucht die Theoriebildung weiterzutreiben. Dabei erweist er sich allerdings als Anwalt des Bestehenden, der nicht gewillt ist, aus den von ihm benannten Problemen Konsequenzen zu ziehen.

Das zeigt sich, wenn er behauptet, die Krise der Linken seit der deutschen Vereinigung betreffe die Autonomen nicht unmittelbar. Sie laste ihnen aber zusätzliche Arbeit auf, weil ohne den Kontext einer linken Bewegung die Autonomen keine Unterstützung bei der Vermittlung von Inhalten mehr erführen (vgl. Geronimo 2, S. 59). Wie diese zusätzliche Öffentlichkeitsarbeit geleistet werden soll und ob dazu veränderte Strukturen notwendig sind, diskutiert er aber nicht. Gleichzeitig zeigt er anhand der Demonstration von Autonomen in Hoyerswerda, daß der interne Widerspruch zwischen geplantem und spontanem Vorgehen weiterbesteht und die Handlungsfähigkeit der Szene nach wie vor gefährdet (vgl. ebenda, S. 111).

Trotz dieser Defizite besteht Geronimo darauf, daß die vorhandenen Publikationsorgane und "Diskussionszirkel" eine ausreichende organisatorische Grundlage für Autonome bildeten (ebenda, S 49) und ihnen weiterhin die Möglichkeit geben würde, "sich in einigen sozialen Konflikten festzukrallen" (ebenda, S. 57). Obwohl er am Beispiel der Anti-Golfkrieg-Aktionen die Schwierigkeiten zeigt, einen eigenen autonomen Standpunkt zu formulieren (vgl. ebenda, S. 86), hält er KritikerInnen der autonomen Erfolglosigkeit ein achselzuckendes "next time..." (ebenda, S. 57) entgegen und empfiehlt ihnen, statt über "Unverbindlichkeit" zu klagen und "Kontinuität" zu fordern, "öfter mal wieder einen radikalen Neuanfang" zu wagen (ebenda, S. 127).

Damit erweist sich Geronimo als unfähig, die eigene Position zu begründen und weiterzuentwickeln. Hatte er sich im ersten Band noch redlich Mühe gegeben, autonome Praxis zu rechtfertigen und Perspektiven zu eröffnen, ist alles, was er den KritikerInnen im Ergänzungsband entgegenzusetzen hat, eine trotzige Haltung.

Die deutsche Vereinigung und die Prozesse danach haben aber auch Geronimo gezeigt, wie wenig die Autonomen den politischen Entwicklungen entgegensetzen können. In der Schlußbetrachtung gibt er sein im ersten Buch vertretenes, offensiv-militantes Konzept auf und spricht davon, daß sich autonome Zusammenhänge "Zeit- und Ruheräume" erkämpfen sollten (ebenda, S. 150).

 

Autonome aus Hamburg: Ich sag', wie's ist!, INTERIM Nr. 26, 28.10.1988; 27, 4.11.1988; 28, 11.11.1988

Autonome lupus-Gruppe: Eigentlich Schnee von gestern?, in: Atom Nr. 41, 18. Jahrgang, Frühjahr 1994, S. 26-32

Dies.: Doitsch-Stunde. Originalfassung mit autonomen Untertiteln, in: Strobl et al.: Drei zu Eins, Berlin/Amsterdam 1993 (1990)

Dies.: Gegen die völkische Mitte, in: Wohlfahrtsausschüsse (Hrsg.): Etwas Besseres als die Nation. Materialien zur Abwehr des gegenrevolutionären Übels, Berlin/Amsterdam 1994, S. 32-35

Dies.: Geschichte, Rassismus und das Boot. Wessen Kampf gegen welche Verhältnisse, Berlin/Amsterdam 1993² (1992)

Dies.: Jetzt rede ich (Arthur)! Gespräch mit Autonomen aus dem Rhein-Main-Gebiet über die Grenzen der Aussageverweigerungskampagne im Startbahn-Prozeß, Konkret 1/1991, S. 50/51

Dies.: Lichterketten und andere Irrlichter. Texte gegen finstere Zeiten, Berlin/Amsterdam 1994

Dies.: Startbahnprozeß und Autonome Politik, in: Swing, Autonomes Rhein/Main-Info Nr. 14/1990, S. 17-21

Dies.: Unerträglich normal, in: Konkret 2/1990, S. 34-36

Geronimo: Feuer und Flamme. Zur Geschichte und Gegenwart der Autonomen. Ein Abriß, Berlin/Amsterdam 1992³ (1990)

Geronimo u.a.: Feuer und Flamme 2. Kritiken, Reflexionen und Anmerkungen zur Lage der Autonomen, Berlin/Amsterdam 1992

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